Der Kollege Qin

Heute möchte auf meinen Kollegen Qin zu sprechen kommen. Durch Ihn lernte ich ein neues Konzept der LehrerInnen und SchülerInnen-Beziehung kennen. Wussten Sie, dass ein Schulkind in China im Durchschnitt einen vierzehn-Stunden-Schultag hat? Da bleibt nicht mehr viel Raum für Hobbies und Freizeit.

Hinzu kommt, dass der Klassenlehrer der Oberstufenklassen, diese auch von der 9. bis zur 12. Klasse begleitet. Resultierend aus dem langen Schultag und dem Klassenlehrer als einzige konstante erwachsene Bezugsperson erhält eben dieser Klassenlehrer beinahe den Status eines Elternteils . In extremen Fällen ist es sogar so, dass die Schüler unter der Woche ein Zimmer auf dem Schulcampus haben und ihre Familien erst an den Wochenenden sehen. Der Lehrer wird also zu einer zentralen Figur in der Welt des Kindes. Eine Bindung, die ich als besonders stark bei Herrn Qin und seiner Klasse empfunden habe.

Die schöne Ebene an dieser engeren Beziehung – so habe ich es zumindest erlebt und empfunden – ist, dass die SchülerInnen ihre Lehrer noch nach vielen Jahren immer wieder besuchen kommen. So kam es auch, dass Herr Qin mich nachmittags einmal zu sich einlud und mich mit ein paar seiner ehemaligen Schüler und Schülerinnen bekannt machte. Die Kontakte, die ich hier knüpfte, halfen mir wiederum, mich als Neuling in Wuhan zurechtzufinden.

Ich erinnere mich hier besonders an Donna und David – das waren natürlich nicht die richtigen Namen der ehemaligen Schüler meines Kollegen Qin, sondern nur die westlichen Namen, die sie während Ihres Sprachunterrichts erhalten hatten -, die mich besonders zu Anfang unter ihre Fittiche nahmen und mir Einkaufsmöglichkeiten, Parks und die wunderbare Wansongyuanlu vorstellten. Letzteres ist eine Straße, die sich als eine Art Snackgasse entpuppte, die man in China an vielen Orten findet und wo sich eine gute Schnellverköstigungs-Küche nach der anderen reiht.

Mein erster Tag

Am Morgen des 28. Augusts 2014 war ich für 10:00 Uhr mit der zierlichen Lily am Schultor verabredet, unter anderem, um für mich eine chinesische Sim-Card zu kaufen. Ich weiß noch genau, wie ich beim Heraustreten aus meiner Wohnung auf einmal ein wahnsinnigen Lärm vernahm, offensichtlich eine Art chinesischer Volksmusik aber in voller Lautstärke. Aus dem 7. Stock hatte ich einen guten Blick auf den Sportplatz der Schule. Dort hatten sich die unterschiedlichen Klassen versammelt, um scheinbar einer halben Stunde sportlicher Ertüchtigung nachzugehen.

In meiner Erinnerung trugen alle Schüler einheitliche Sportanzüge in einem weinrot-weiß-Muster. Sobald alle Klassen in Reih und Glied versammelt waren, ertönte neben der Volksmusik noch eine Stimme, die in einem fortwährenden Singsang immer wieder die selben Wörter wiederholte: yi, er, san…,si, wu, liu (zu Deutsch: eins, zwei, drei…, vier, fünf, sechs). Zu jeder Silbe gab es eine spezielle Übung. Ich fühlte mich an das englische Kinderlied „head, shoulders, knees and tows, knees and tows“ erinnert.

Während meiner Monate in Wuhan lernte ich, dass körperliche Fitness und die simultanen Bewegungen im Gruppengefüge auch das gemeinschaftliche Miteinander stärken sollten. So sah ich ältere Damen im Park gemeinsam tanzen und auch die jungen Mitarbeiter*innen eines Imbisses morgens gemeinsam joggen und dabei Motivationssprüche brüllen.

Lily führte mich anfangs ein wenig auf dem Schulgelände herum und ich lernte, das die Gebäude rund um das Schulgebäude aus Wohneinheiten für chinesische Lehrkräfte, Wohneinheiten für internationale Lehrkräfte und Wohneinheiten für Schüler*innen bestand, die ihre Familien nur an den Feiertagen besuchten.

Ich lernte den Chef des Foreign Office, sowie den Schuldirektor kennen und schenkte jedem ein Glas „deutschen Honig“. Anschließend stellte Lily mich den anderen Lehrkräften für europäische Sprachen vor. Neben Deutsch wurden auch Englisch und Französisch gelehrt.

Ich erhielt eine Mensakarte auf welche mir die Schule monatlich 200 Yuan zahlen würde. In all dieser Zeit war ich genau einmal in dieser Schulmensa essen. Die Imbisse rund um die Schule waren einfach zu zahlreich und alle tausendmal besser als die Schulküche.

Nachdem Lily mich noch zur Polizei begleitet hatte, um mich registrieren zu lassen für einen länger als sechsmonatigen Aufenthalt in Wuhan, setzte sie mich bei einem Supermarkt ab, wo ich nebst Lebensmitteln auch Putzutensilien besorgte. Ich gab 265 Yuan bei diesem Einkauf aus, ungefähr 30 Euro zu diesem Zeitpunkt.

Gegen 18:00 Uhr kam der junge Französischlehrer, der in der Wohnung neben meiner untergebracht war, bei mir zu Besuch vorbei und wir lernten uns bei einem Bierchen kennen. Dieser Mensch wurde in kurzer Zeit zu einem meiner besten Freunde auf der Welt. Ich weiß wie kitschig das jetzt klingt aber ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie einen Menschen kennen gelernt, der sowohl von außen als auch von innen strahlt.

Genau das macht Reisen mit dir, du lernst andere Menschen, Werte und Weltbilder kennen. Es ist eine Suche nach dir selbst und dem, was du anstrebst zu sein.

Ankunft

Ich kam im August 2014 nach Wuhan. In meiner Erinnerung roch die Luft – als ich damals am internationalen Flughafen Tianhe aus dem Gebäude trat – feucht und tropisch. Mit meinen 22 Jahren war ich zu dieser Zeit noch ziemlich unbedarft und hatte das Gefühl eigentlich noch nichts von der Welt zu wissen, weshalb die Reise nach China für mich ein Wendepunkt bedeutete. Es ging nun darum mir selbst zu beweisen, dass ich auf mich allein gestellt und ohne die elterliche Fürsorge überleben konnte. 

Mein allererster Kontakt war die zierliche Lily. Sie arbeitete für das Foreign Office der Wuhan Foreign Language School, an der ich Anfang September anfangen würde zu unterrichten. Ein Gedanke, der mir damals Bauchschmerzen verursachte. Folgendes Szenario ging mir in Dauerschleife durch den Kopf und hinterließ mich als ruheloses, zitterndes Häufchen Elend: „Ich, allein, vor einer 50-köpfigen Klasse chinesischer Schülerinnen und Schüler, die sich gelangweilt und unkonzentriert gaben, hinsichtlich dessen, was ich ihnen zu sagen hatte“. Der bloße Gedanke vor einer Gruppe zu stehen und ihnen etwas von der Welt zu erzählen, die ich mir ja gerade erst anschauen wollte, schien mir lächerlich und absurd. 

Im Nachhinein bin ich den Vertretern des Hanban und des Bundesinstitutes für Forschung und Bildung unglaublich dankbar, dass sie sich damals für mich entschieden haben. Sie erlaubten mir somit, mich zu entfalten, mich selbst zu entdecken, eine mir neue und damals noch fremde Kultur zur erkunden und auch meine eigene Kultur ein Stückchen besser kennen zu lernen.